Meine Ideen lassen sich ja generell in eine von zwei Kategorien einordnen: die schlechten und die unpraktischen. Hin und wieder gelingt mir aber ein Einfall, der beides kombiniert: Er ist kompliziert in der Umsetzung, stellt sich dafür aber bald als ziemlich idiotisch heraus. Und in der Anfangsphase schien es, als wäre meine Idee, nach Kunshan zu fahren, eine letztere solche gewesen.
Alle Wege führen nach Rom - und keiner nach Kunshan ...
Kunshan ist eine kleinere Kreisstadt in der Nähe von Zhouzhuang - oder eigentlich ungekehrt, denn Zhouzhuang gehört zum Verwaltungsbezirk Kunshan. Obwohl die Stadt also ganz in der Nähe von Shanghai liegt, fährt absolut niemand hin. Mich reizt so etwas. Denn es bedeutet, dass es dort vermutlich recht untouristisch und folglich auch ziemlich original-chinesisch zugeht. Also beschloss ich, diesen Ort aufzusuchen, dort eine Nacht zu verbringen und herauszufinden, wieso man nie etwas davon hört.
... doch dafür ist man schnell dort.
Obwohl Kunshan etwa genauso weit von Shanghai entfernt ist wie Zhouzhuang, benötigt der Zug zu ersterem Ziel nicht ganz jene vollen zwei Stunden der Busfahrt zu zweiterem. Um genau zu sein, war ich nach 18 Minuten da. Dies liegt daran, dass das Städtchen an der Strecke Shanghai-Nanjing liegt, die von einem der hypermodernen Hochgeschwindigkeitszüge befahren wird, die mit 220 km/h dahinbrausen. Der Komfort dieser fast lautlos dahingleitenden Gefährte ist schwer zu beschreiben und man möchte gar nicht mehr aussteigen. Doch bei einer Strecke von etwa 60 Kilometern zahlt es sich kaum aus, sich hinzusetzen.
Jaja, ich hör' eh schon auf zu quatschen ...
In der Stadt angekommen, glaubte ich zunächst, endlich ergründet zu haben, wieso außer mir zwar alle nach Hangzhou oder Suzhou - niemand aber nach Kunshan fährt: Es ist stinkschiach.
Dachte ich zumindest. Zum Glück stellte sich das bald als vollkommener Irrtum heraus. Doch sehet selbst:
Die Reise beginnt in der entspannten Atmosphäre des Shanghaier Bahnhofs. So sieht eine der dutzenden Wartehallen außerhalb der Reisesaison für einen Zug an ein nicht besonders populäres Ziel aus. Beim Check-in in den Bahnhof und der anschließenden Durchleuchtung ist natürlich noch viel mehr los.
In Kunshan angekommen, begrüßt mich zunächst ein Sex-Shop ("Mann-Frau-Beziehungszubehör" im Chinesischen), und dann obiges reizvolles Flußpanorama. Ich frage mich, warum ich nicht einfach wie alle anderen auch zu den schönen Zielen der Umgebung fahre.
Die Hotelsuche ist schnell erfolgreich: Nur 14 Euro kostet das Zimmer mit Live-Sound von der befahrenen Hauptstraße. Die Dusche ist nur mäßig verschimmelt, und man hat zahlreiche Wahlmöglichkeiten: entweder zögerlich tröpfelndes Warmwasser oder ein kräftiger, eiskalter Strahl.
Die Chinesen schätzen ja die Kunst der Vermehrung. Und so gibt es im Hotel neben Shampoo, Seife und Einmal-Zahnbürste auch Aphrodisiakum. Natürlich fein säuberlich nach Geschlechtern getrennt - für den müden Mann und die fade Frau. Fast bekomme ich Lust, jenes für die Frau einzunehmen, um zu prüfen, ob ich dann schwul werde.
Doch bereits mein erster Spaziergang versöhnt mich: Kunshan ist eine freundliche, blitzsaubere und auch schöne Stadt, in der man hervorragend einkaufen kann. Ich erstehe wunderbares Kalligraphie-Zubehör und sogar eine ausgesprochen fesche Hose und Jacke um 20 Euro. Noch etwas fällt auf: Als Westler erregt man nur freundliche Neugier, bekommt aber nicht wie in den Touristenzielen alle drei Schritte "Watches", "Handbags" oder "Lady! Massage!" angeboten. Ich erfahre, dass Kunshan der wohlhabendste Verwaltungsbezirk Chinas ist. Und das merkt man auch.
Um Schreiben zu können, scheue ich keine Kosten und Mühen: Ich erstehe nichts geringeres als das "bequemste Heft, mit dem ich je zusammengestoßen bin".
In dem selben Buchgeschäft, in dem ich obiges Sensations-Heft erwerbe, sind die einzelnen Themenbereiche sogar auf Englisch angeschrieben. Das ist fein. Denn sollte ich jemals mein Interesse an dem weitreichenden Fachgebiet der "Odd Flake Chance" entdecken: Kunshan hat zu diesem Thema ein reichhaltiges Sortiment.
Die Auswahl mancher hochspezialisierter Abteilungen ist hingegen eher überschaubar. Wie beispielsweise diese hier. Aber das richtet sich ja auch an ein ausgesprochen anspruchsvolles Nischenpublikum.
Mein Spaziergang führt mich weiter in den Norden der Stadt. Dort stoße ich unvermittelt auf den wunderschönen, großen "Tinglin"-Garten, ein riesiges, geschlossenes Gebiet, das in der Tradition der chinesischen Gärten sowohl kunstvoll arrangierte - und mit Statuen, Ziersteinen und Gewässern versehene - als auch "ungezähmte" Natur umfasst.
Dort gibt es auch einen Berg mit großartiger Aussicht sowie allerlei antiken Bauwerken, den ich natürlich sofort erkraxle.
Sogar ein sehr geschmackvolles Museum entdecke ich - und erröte vor Scham. Muss ich doch erst hier erfahren, dass Kunshan der Geburtsort der Kunqu-Oper ist. Dies nicht zu wissen mag ja noch angehen. Aber dass ich der "Kunqu" bloße Existenz nicht einmal ahnte, ist schon etwas peinlicher - ist sie doch die Mutter aller klassischen, chinesischen Opern, zu denen beispielsweise die Guangdong-Oper, die Sichuan-Oper oder - die unter Europäern bekannteste Form - die Peking-Oper gehören.
Nach dem auch akustisch durchaus anspruchsvollen Museumsbesuch, kommt mir ein Teehaus wie gerufen. Es gehört einem reizenden älteren Ehepaar, das mir hervorragenden Drachenbrunnen-Tee kredenzt. Inklusive Wasser nach Belieben, in der im üblichen geschmackssicheren chinesischen Design gehaltenen Thermoskanne. Die alte Dame des Hauses interessiert sich sehr für meine Chinesisch-Studien; doch nach einem ebenso angeregten wie netten Gespräch genieße ich auch gerne die an diesem regnerischen Tag friedliche Umgebung - und schreibe sogar ein Lied, das nicht allzu schlecht ist.
Es ist schwer zu verstehen, warum sich in Shanghai tausende Touristen um einen einzigen Tempel prügeln - während hier in Kunshan ein riesiger solcher steht, der mindestens ebenso schön, allerdings vollkommen frei von Menschen ist. Mit Ausnahme einiger Mönche und einiger buddhistische Gebete praktizierender Einheimischer bin ich der einzige Besucher - und genieße vollkommen ungestört von Menschen, Keilern und Souvenierverkäufern die dort wirklich würdevolle Ruhe des heiligen Platzes. Dabei entdecke ich auch viel Wissenswertes über das Leben im Tempel ...
... wie beispielsweise, dass auch der buddhistischen Mönch seine Kutte waschen muss, und die Unterhose seines Vertrauens zum bewährten Modell "Feinripp Maxi" gehört. Da fällt das enthaltsame Leben leicht.
Doch nicht nur der Einkehr und Ruhe will gefrönt sein. Spätabends erkunde ich das lebendige Nachtleben von Kunshan. Beim einem langen Gespräch in einer Bar bemerke ich erstaunt, dass mein Chinesisch offenbar doch schon zum Plaudern ausreicht.
Irgendwie beschleicht mich aber auch das Gefühl, dass ich nicht der erste Europäer bin, den es nach Kunshan verschlägt. Schön, dass auch die Chinesen sich das beste aus unserer Kultur aneignen.
18 Kommentare:
Erste? Unglaublich!
Sehr schöner Reisebericht, bei dem ich mich köstlich amüsiert hab. Da hätte der Mönch die Möglichkeit, im Zubehörhandel für Mann und Frau was ästhetisch Ansprechendes zu erstehen, und doch gewandet er sich unsägliches Feinripp. Wer weiß, wofür er Busse tun muss (gibts das Konzept da überhaupt?)... Welche Strafe schlimmer sein könnte, abgesehen vielleicht von der Beschäftigung mit "odd flake" [Deutung?], weiß ich auf Anhieb auch nicht ;)
Ich hoffe auf alle Fälle, dass der Zusammenstoss mit dem Notizbuch bei keinem von Euch beiden bleibende Schäden hinterlassen hat, und so weiterhin humorige Kommentare und tolle Bilder ihren Weg in mein Wohnzimmer finden.
Seid unbesorgt! Ich bin wohlauf. Das Heft auch. (Nur ein bissl zerwurschtelt vom Transport.)
Zur "Odd Flake Chance" vielleicht ein bissl Background Info: Offenbar hat da jemand mit einem einzigartigen Händchen für die falsche Bedeutung eines Zeichens übersetzt. Denn die drei Schriftzeichen auf dem Foto haben durchaus die Bedeutungen "ungerade", "Splitter" und "Möglichkeit". Doch anscheinend wurde da einfach automatisch irgendeine Bedeutung ausgewählt. Denn hätte man einfach die Grundbedeutungen der Zeichen gewählt (einzeln + Platte + Maschine) käme man der Wahrheit schon näher ... offenbar geht es hier nämlich um Bücher aus der Welt der Technologie - und um irgendwelche Fertigungsmaschinen. Doch mir gefallen tendenziell thematisch auch "Seltsame Schuppenchancen" besser ;).
sehr schön da...
schlussfolgerung: fahr einfach irgendwo hin, wo die anderen nicht hinfahren, und alles passt!
PS: wusste gar nicht, dass ich in china ein stammlokal habe...
;-)
Heiho! Bin frisch und munter aus Bähmen zurückgekehrt, und freue mich sogleich! Jööö, es gibt a neiche Numma! :)) Leiwand!
Die zwei Musikusse (Musici?) ließen in mir spontan den Gruppennamen "Fidele Changtaler" entstehen. :D
Wie immer ein toller Reisebericht! Schön, wenn man so ganz ohne Anstrengung ein bisserl dabeisein kann!
@rudi: ja, das war auch der gedanke dahinter - einfach mal loszischen ohne blöd planen und dann selbst schauen, was es so gibt. ist erstaunlich einfach :). und bei dem lokal hab ich auch irgendwie an dich denken müssen ;).
@toshi: ach, in bähmen bistu gewäst? warsta scheen da?
und die "fidelen changtaler" find ich sensationell *g*. obwohls eigentlich mehr fidele "kunshaner" sind - aber wir wollen mal nicht so genau sein :).
Jo, wor sich sähr schän in Bähmen! :) Blogeintrag folgt. Bald. Öhm. Oder Mail. Mal schauen.
Strässän sie sich ihnän nicht. das läbän is zu kurz zum bloggän :D.
eine technische frage hätt ich bittascheen: kannst du die beiträge nicht so anlegen, dass es einzelne seiten sind - zumindest bei denen mit fotos? wenn mans nämlich ausdruckt kommt alles in einer wurscht - was zur folge hat, dass oft die bilder halbiert werden...
aber wahrscheinlich is das zu kompliziert...
;-)
@toshi: ich harre gespannt dem, was da auch immer kommt :)
@rudi: tja - ich wünschte, so etwas wäre möglich - dann wäre das ganze auch nicht so unübersichtlich. leider habe ich mich für eine etwas ungschickte blogger-plattform entschieden, wo auch der foto-upload übrigens sensationell umständlich ist. (arbeitszeit an diesem bescheidenen reisebericht: 2 stunden. davon reine schreibarbeit ca. 15 minuten - der rest war upload und herumgeschiebe, bis das layout halbwegs passte :P). also leider nicht möglich - sorry :P.
Zumindest kann man aber den Titel des Eintrags anklicken und dann nur diesen einen Eintrag (samt Kommentaren) angezeigt bekommen. Vielleicht ist das einen Versuch wert?
@etosha: mach ich ja.... es ging nicht ums anschauen sondern drucken...
@Cle-Men-Tzi:
wusste gar nicht, dass das so viel arbeit ist...
aber das layout ist ja eh super.
es ging ja nur ums siehe oben...
etosha hat schon recht - wenn du den titel anklickst und somit nur den aktuellen eintrag am bildschirm hast und DANN druckst, dann bekommst du auch nur einen ausdruck von diesem eintrag. alles klar? ;)
ich glaub es ging aber darum, dass beim drucken die bilder einfach abgeschnitten werden... da nutzt's auch nix, wenn man den beitrag "einzeln" öffnet...
ne andere möglichkeit:
alles markieren, kopieren und dann ab ins word damit. da kann man dann rein theoretisch am seitenumbruch rumbasteln.
vronella - hier werden sie geholfen ;)
Genau, es ging um die abgeschnittenen Bilder... hatte das erst auch nicht für möglich gehalten, aber beim Druck wird da einfach beinhart beschnibbelt.
Das ist sehr "consfu", findet
E.-
Ich find's eigentlich sogar ausgesprochen "unper" ...
so ich hab das jez ausprobiert, funktioniert ausgevorzüglich und vor allem hat man dann nen weißen hintergrund und das freut den drucker sicher auch...
hier nochmal das kochrezept:
- blogtext/bilder markieren
- rechte maustaste: kopieren
- word aufmachen
- rechte maustaste: einfügen
- bissl formatieren
paaaaaasst
das ist richtig stencui!
tja...mit dem bissl formatieren bin ich leider überfordert... ;-)
aber interessant ist - wenn ich ausdrucke hab ich IMMER einen weißen hintergrund - automatisch...
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