Sonntag, 9. August 2009

Epilog: Fremd in der eigenen Heimat

Der Friede ist die Mutter aller Dinge
Ja, ich bin zurück in Wien! Und der reverse Kulturschock war groß. Nämlich insoferne, als er zunächst überhaupt nicht eintrat. Als ich so vom Flughafen Wien-Schwechat (dessen Erfolgsprojekt "Skylink" ich live würdig bestaunte) Richtung Hadersdorf-Weidlingau fuhr, war mir, als wäre ich erst vor etwa einer Woche von hier aufgebrochen. Abgesehen davon, dass sich erwartungsgemäß kaum etwas verändert hatte, fühlte ich mich noch genauso zu Hause, erkannte jedes noch so kleine Sträßlein sofort wieder, ja, sah sogar teilweise die gleichen Leute auf den gleichen Bankerln sitzen (und ich mutmaße, dass nur ein verschwindend geringer Prozentsatz dieser Menschen dort vor einem Jahr unbemerkt verstorben und im beigen Früherbst-Manterl mumifiziert zum ewigen Bankerlsitzen und Ignoriert-Werden verdammt wurden).

Ehrlich gesagt: Ich war etwas enttäuscht. Da hätte ich doch gleich in China bleiben können.

Verdammt, wer bin ich?!
Am nächsten Tag aber folgte der Schock: Ja, ich kannte die Straßen noch ... aber die Menschen waren mir fremd geworden! Ich selbst und mein Verhalten passten da einfach nicht mehr hinein.

In China bildete ich mir ein, als exotischer Fremdkörper vollkommen österreichisch und unverändert durch die Menschenmassen zu pflügen; doch hier in Wien bemerkte ich erst, wieviel Chinesisches sich offenbar an mir abgerieben hatte: Mit entspannter Selbstverständlichkeit schlapfte ich unter paradiesischer Ignoranz sämtlicher panisch-flimmernder Lichtsignale bei Rot über die Straße - und bemerkte mein Außenseitertum erst, als fast alle mich umgebenden Menschen am Straßenrand wie festgeklebt verharrten. Das fühlte sich vielleicht seltsam an. Und dann beim Billa: Ich erstand eine Dose Red Bull ... und zwängte mich gewohnheitsmäßig mitten hinein in einen der mir plötzlich ausgesprochen geräumig erscheinenden Zwischenräume jener Schlange, die zahlungswillige Menschen vor der Kasse bildeten. Natürlich fiel mir sofort auf, dass da etwas nicht stimmte - wenn nicht sowieso, dann spätestens aufgrund der beredten "Geh scheißen"-Blicke meiner Mitmenschen.

Auf der Straße war es geradezu beängstigend menschenleer und ruhig (wir sprechen von Samstagnachmittag auf der Mariahilfer Straße) - und überhaupt war die Stille von einer geradezu unnatürlichen Durchdringlichkeit und Allgegenwart: Die Menschen flüsterten miteinander, Türen wurden leise geschlossen (und mir nicht ins Gesicht geschlagen), Kinder, die mehr als einen Augenaufschlag wagten von ihren Eltern sofort zur Stille gemahnt - und sogar die Automotoren summten wie kleine Aufziehautos vor sich hin, anstatt wie anständige, chinesische Mobile bei der Vorbeifahrt mit sattem Vergaser-Heavy-Metal mir das rechte Trommelfell beim linken Ohr hinauszudrücken.

Und, verdammt, wo bin ich?!
Mein Staunen nahm einfach kein Ende: Die Parks glichen Hospizen, in denen vereinzelte, ältere Menschen schweigend und nichtstuend auf Bänken ihrem Ende entgegenschimmelten. Niemand lässt hier Drachen steigen, keiner singt oder tanzt, ja nicht einmal Karten- oder Schachspieler sind zu beobachten. Und wie schnell ich plötzlich von A nach B kam! Nicht, dass ich unbedingt nach B wollte, aber zumindest kam ich so schnell hin, dass es eigentlich eh wurscht war. Benötigte man in Shanghai von der Gehsteigkante zum gegenüberliegenden Geschäftseingang etwa 30 Minuten (und bei heftigerem Menschenaufkommen war das Erreichen oft genug eine Frage des "ob" eher denn des "wann"), kann man in dieser Zeit mit ein wenig Glück die gesamte Stadt Wien durchqueren.

Alles in Wien erschien mir plötzlich wahnsinnig klein, ruhig, durchaus beschaulich und sauber - aber auch auf faszinierende Weise zugleich extrem vertraut wie fremd. Ich sah - und das ist keine Übertreibung - diese Stadt tatsächlich gleichzeitig mit zwei Augenpaaren: meinen eigenen, und jenen eines Chinesen - und an dieser Stelle folgt kein unlustiger Witz über asiatische Augen (solche halbrassistischen "Späßchen" hasse ich nämlich), sondern ich meine damit lediglich, dass ich meine alte Heimat auf einmal so sah, wie sie auf Chinesen wirken muss. Es waren einige positive Überraschungen dabei, einige negative, vor allem aber Vieles, Vieles, das wirklich fremd und unendlich spannend ist. Und das hatte ich nun wirklich nicht erwartet.

Und ... bin ich verdammt?!
Genauso wenig hatte ich erwartet, dass ich zwar im Gespräch mit Eltern und Freunden nicht einmal ansatzweise auf die Idee käme, ins Chinesische zu verfallen. Beim Betreten eines Geschäfts hingegen verwirrte ich das (ungewohnt höfliche) Verkaufspersonal mit der wie selbstverständlich aus mir quellenden Frage: "请问,这里有卖手机的吗?" Offenbar assoziere ich zwar nach wie vor völlig natürlich meine Bekannten und Freunde mit der für Deutsch zuständigen Gehirnregion; ebenso natürlich sind mittlerweile allerdings auch "offizielle" Interaktionen wie mit Verkaufspersonal oder Kellnern auf Chinesisch abzuwickeln. (Das stört aber kaum. Denn tatsächlich bemerkte ich beim Handykauf, dass sich der Unterschied zwischen Beratungsgespräch/Deutsch und Beratungsgespräch/Chinesisch verständnisbezogen in Grenzen hält.)

Verdammt, ich lieb dich
All dies macht mich natürlich nicht nur ungeheuer interessant, es hatte vor allem auch einen Nebeneffekt: Ich kam gar nicht dazu, China zu vermissen. Es gab so viel Altes auf neue Weise zu entdecken, dass jeder Tag für mich fast ebenso spannend war als hätte ich ihn in China erlebt.

Nun bin ich seit zehn Tagen zurück, und diese Effekte beginnen allmählich nachzulassen. Im gleichen Ausmaß setzt die Sehnsucht nach China, nach Shanghai ein. Österreich und China, Wien und Shanghai - beide Welten haben so viel Schönes, so viel Spannendes, so Vieles, das es zu entdecken gibt. Ich habe jetzt zwei Orte, an denen ich mich zu Hause fühle. (Oder, wie ich es als passionierter Extrem-Optimist formulieren würde: Wo auch immer ich gerade bin, mir geht immer etwas ab.)

Vielleicht führe ich an anderer Stelle doch noch ein Blog weiter. Kommt darauf an, ob ich etwas zu sagen habe.

Vielleicht sieht man sich also dort ]:).