Sonntag, 18. Januar 2009

Sichuan - I: 成都 (Chengdu)

Sodala, da bin ich wieder. Eine ebenso anstrengende wie abwechslungsreiche und aufregende Reise liegt hinter mir - und es war ja völlig klar, dass ich genau dann, wenn ich beschließe, eher statisch zu sein und nur ganz bieder eine Stadt zu bebummeln, besonders viel und besonders abenteuerlich herumfahre. Dementsprechend viele "Firsts" gab es auf dieser Reise auch für mich, und es war sicher jener Trip mit den meisten persönlichen Erlebnissen.

Scharf und Scharf
四川 (Sichuan, Setschwan, Szechuan, etc. - "Vier Flüsse") ist eine große Provinz in Chinas Südwesten. Fast alle Speisen, die wir in Österreichs kulinarischen Tempeln genannt "Chinalokale" bekommen, basieren auf der Küche dieser Provinz, die auch in China selbst höchst beliebt ist. Natürlich kennen wir in Österreich nur einen kleinen Ausschnitt davon - denn angeblich gibt es alleine in Sichuan über 5.000 verschiedene, traditionelle Gerichte. Und scharf sind die, dass einem die Tränen kommen. Im Chinesischen gibt es ja mehrere Wörter für "scharf". Die Sichuanesische Küche ist 麻辣 ("ma la") - die Bezeichnung für eine Schärfe, die weder im Hals noch im Magen brennt, stattdessen aber ein prickelndes, taubes Gefühl im Mund erzeugt, ohne wehzutun. Die Speisen der Provinz Hunan hingegen sind beispielsweise 辣 (la) - eine Schärfe, die man erst im Bauch spürt und die dort wärmt.
Tatsächlich haben wir in ganz Europa nichts, was mit der "ma la" Schärfe zu vergleichen wäre ... es ist, als würde einem der gesamte Mund einschlafen, wenn man in den in Sichuan so beliebten Gatsch aus dem berühmten "Sichuan-Pfeffer", Erdnüssen und Öl beißt, der die Basis sehr vieler Gerichte ist. Schmeckt unglaublich gut, ist ein ausgesprochen schräges Gefühl im Mund - und am nächsten Tag hat man auch noch etwas davon.

Das große Erdbeben
Aber ich schweife ab - so viel gibt's über Sichuan zu sagen, dass hier einfach nix weitergeht. Also: das Erdbeben. Letztes Jahr wurde ja diese Provinz von einem der stärksten Erdbeben erschüttert, die man in China seit langem erlebt hat. Chinas Regierung überraschte in diesem Zusammenhang mit ausgesprochen offener Berichterstattung über das gesamte Ausmaß der Katastrophe und mit intensiven Hilfsmaßnahmen.
Nun war das Beben zwar in allen Nachrichten, aber das heißt ja noch lange nicht, dass ich auch daran denke, wenn ich wo hinfahre. Deswegen wurde mir erst im Flugzeug nach Sichuans Hauptstadt 成都 (Chengdu = "die vollkommene Stadt") klar, dass das Erdbeben ja dort irgendwo stattgefunden hat. Da die telefonische Reservierung in dem kleinen Hostel vor Ort allerdings problemlos geklappt hat, bin ich einfach einmal davon ausgegangen, dass zumindest die Stadt selbst noch steht.

Das Hostel und Ray
Das Hostel selbst war dann auch schnell gefunden - es liegt inmitten eines "Hutongs", eines alten, traditionellen (aber völlig renovierten) Stadtviertels ohne Autos, das selbst eine Attraktion ist, in einem wunderschönen, alten Haus mit Innenhof. Praktisch direkt gegenüber gibt es eine nette Bar, in der ich den Barmann Ray kennenlerne. Als gebürtiger Chengduer ... Chengdute ... Chengisianer ... Chengiduliöh ... na, jedenfalls als jemand, der in Chengdu geboren ist, weiß er natürlich Bescheid: Das Epizentrum des Erdbebens lag gerade einmal 70 Kilometer nordwestlich von Chengdu. Die Hauptstadt selbst hatte sehr viele Tote zu beklagen, wurde aber nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen wie die Umgebung - die vom Erdbeben mehr oder weniger geplättet wurde. Gedanken an eine mögliche Mithilfe beim Wiederaufbau kamen mir an dieser Stelle, aber dafür wäre wohl eine Woche eventuell ein bisschen zu kurz gewesen. Ray versicherte mir indes, dass jetzt alles wieder in Ordnung wäre - und zumindest auf meinen Reisen in die Umgebung waren keinerlei Spuren der Zerstörung zu sehen.

Ich war in dieser Woche zum Tagesausklang dann noch zweimal Gast in der Bar "Softtone" und plauderte mit Ray über allerlei epochale Dinge. Der 21-Jährige ist zwar eher vom Typ "chinesischer Strizzi", aber trotzdem ausgesprochen nett - und führte mich außerdem in den Sichuanesischen Dialekt ein, der vom Hochchinesischen fast ebenso stark abweicht wie das Shanghaiische. Und auch fast ebenso hässlich klingt, übrigens, mit seinen scharfen "ss" Lauten, wo eigentlich "sch" sein sollte, und den vielen grauslich gedehnten "äääää". Aber schon wieder schweife ich ab.

Mein Hostel, das "Dragon Town Guesthouse", hat alles, was das Herz begehrt: Wunderschöne, original antike Architektur, einen offenen Innenhof, freundliches Personal ... Gut, Heizungen wären bei den vorherrschenden Minusgraden vielleicht noch eine nette Draufgabe gewesen. Duschen bei 10 Grad Badezimmertemperatur hat eher Kneippschen Charakter.

Ray (rechts) und das übrige Personal des "Softtone" Pubs entpuppten sich als reichhaltige Quelle für Informationen über Sichuan und China, die in keinem Reiseführer stehen.
Interessant beispielsweise, dass in Rays Schule der Sexualkunde-Unterricht getrenntgeschlechtlich stattfindet und immer nur das jeweils eigene Geschlecht gelehrt wird. "So müssen wir alles selbst herausfinden", meinte Ray mit etwas unglaubwürdiger Kummermiene.


Die Sache mit den Sichuanesischen Taxis
Bevor ich nun gleich einen eher unlustigen aber dafür optisch ein-Hammer-seienden Bilderreigen der größten Sehenswürdigkeiten der Stadt Chengdu über meine wehrlosen LeserInnen ergieße, gibt es noch eine letzte Besonderheit, die zu erwähnen auch im Hinblick auf mögliche künftige Reisen seitens der KonsumentInnen dieses Blogs nicht uninteressant ist: den Verkehr in Chengdu. Und hier ganz speziell die Taxis und Busse.

In sämtlichen anderen chinesischen Städten, die ich bisher besucht habe, braucht man sich nur einmal am Kopf kratzen, um innert Sekundenbruchteilen von dreiunddreißig beförderungswilligen Taxis über den Haufen gefahren zu werden. In Shanghai vermeide ich so gut es geht, bei einem Spaziergang meinen Schritt zu verlangsamen oder meinen Blick Richtung Straße schweifen zu lassen, aus Furcht vor den Massen an Taxis, Dreirädern und Fahrrad-Rikschas, die mir dann sofort den Weg versperren und mich mit allen Mitteln zur Mitfahrt zwingen wollen.

Nicht so in Sichuans Städten. Sei es Chengdu, Chongqing, Leshan oder Ya'an: Einmal alle heiligen Zeiten gurkt in heiliger Ruhe ein einsames Taxi die Straße entlang - und wird sofort in einer symmetrischen Umkehrung der gewohnten Situation von Heeresscharen wildgewordener Fußgänger umzingelt, die unverzüglich mit vollem Körper- und Geldeinsatz in epische Schlachten um den begehrten Fahrgastposten ausbrechen. Und wer einmal Chinesen in vollem Einsatz erlebt hat, der will da nicht in die Quere kommen. Kurz und gut: Auch wenn sich mir der Grund nicht erschließt, Sichuan - und insbesondere Chengdu - leidet an einem verheerenden Taxi-Mangel. Eine Folge davon sind jene unfassbar komprimierten Menschenbündel, die wie von Geisterhand auf Chengdus Straßen dahinwälzen, und nur bei genauer Betrachtung jene hauchdünne Autobus-Hülle preisgeben, die sie gerade noch irgendwie umschließt, stets haarscharf an der Grenze zur Explosion.

Ich bin also viel zu Fuß gegangen in dieser 5-Millionen-Einwohner-Stadt.

Und wie schaut die eigentlich aus?

So:

Der "Tianfu-Platz" im Zentrum der Stadt ist ein klassisch kommunistischer Prunkplatz - von einer Kollossalstatue des Herrn Mao majestätisch überwunken, bietet er moderne Skulpturen, riesige Einkaufszentren, musikuntermalte Wasserspiele gigantischen Ausmaßes - und vor allem viel Platz.


Der 1.000 Jahre alte Wenshu Tempel ist einer der größten und besterhaltenen buddhistischen Tempel der Provinz. Er bietet prächtige Architektur der Tang-Dynastie, die man - ganz China-untypisch - nicht fotografieren darf. Und drumherum gibt's bei Straßenhändlern das übliche Gemisch aus Kunst und Kitsch, das in Sichuan noch ein gutes Stück vielfältiger ausfällt und dem ich daher noch ein eigenes Posting widmen möchte.

Im ältesten und größten taoistischen Tempel der Stadt - dem Qingyang Tempel - soll vor einiger Zeit Lao Tse persönlich einen Freund getroffen haben, der ihn trotz seiner Verkleidung als Ziegenhirte sofort erkannte. Das ist natürlich eine Sensation (wenn auch reichlich seltsam), und deswegen gibt's da heute zwei Statuen von Ziegen. Und eine ganz eigene, friedliche Stimmung. Meiner Meinung nach die interessanteste architektonische Sehenswürdigkeit von Chengdu - ganz besonders, wenn man sich für Taoismus interessiert.

Und deswegen gibt's davon auch ein zweites Bild. So schauen die taoistischen Mönche aus - mit schlichten, blauen Roben, langen Haaren, die - zu Knoten gebunden - aus oben offenen Mützen herausschauen, und langen Bärten. Ziemlich coole Typen. Und verdammt viele, verdammt komplizierte Gottheiten gibt es in taoistischen Tempeln - besonders wenn man bedenkt, dass der Taoismus eigentlich irgendwo zwischen Philosophie und Religion schwimmt.


Übrigens steht momentan natürlich auch in Chengdu alles im Zeichen des bevorstehenden chinesischen Neujahrsfestes. Am 25. Jänner wechseln wir ja vom Jahr des Ratzen in das Jahr des Rindviechs. Auch in den Tempeln ist daher alles festlich geschmückt. (Hier im Wuhou-Tempel. Glaub' ich.)


Ja gibt es denn in Chengdu nur Tempel, höre ich Euch fragen? Mitnichten! Es gibt auch ganz große, ganz alte Erdhaufen! Wie beispielsweise diesen hier, der mit einem großen Eingang versehen ist. Es handelt sich dabei um das Grab des berühmten Generals Wang Jian - das einzige oberirdische Grabmal Chinas, das für seine 1.000 Jahre noch ziemlich frisch aussieht. (Bildlich gesprochen.) Im Inneren kann man die einzige erhaltene Repräsentation einer Live-Band aus der damaligen Zeit bewundern: 24 Musiker mit ihren Instrumenten sind als Statuen erhalten.


Immer wieder peinlich für mich ist auch die Erfahrung, dass zwar jeder Chinese Shakespeare oder Goethe kennt - uns aber selbst Literaten von so gewaltigem Einfluss wie Li Bai oder Du Fu recht chinesisch vorkommen. Letzterer - einer der wichtigsten Dichter der Tang-Dynastie - hat vor gut 1.200 Jahren in Chengdu gelebt, in einem kleinen Strohdachhaus, um das herum ihm die Kaiser nachfolgender Dynastien ein Denkmal in Form eines riesigen Parkes gesetzt haben. Hier der Eingang.


Hier das recht gemütliche Anwesen, das der Dichter selbst gebaut hat. Wäre in der Nähe vom Neusiedlersee auch nicht so falsch am Platze.

Auch einer der wichtigsten klassischen Dichterinnen Chinas hat man in Chengdu ein Denkmal in Form eines Parkes gesetzt: Xue Tao war ganz narrisch auf Bambus, deshalb gibt es in ihrem Park auch Bambuswälder mit über 150 verschiedenen Arten dieses Mega-Grases ...


... und außerdem ein (teils Freilicht-)Museum mit traditioneller Bambus-Kunst.


Sichuan grenzt ja an Tibet, und so gibt es in der Hauptstadt eine lebendige tibetische Community. Viele Geschäfte sind zweisprachig angeschrieben, überall gibt es tibetische Waren und Kleidung zu kaufen - und auf der Straße sieht man massenhaft tibetische Gesichter und traditionell gekleidete Menschen.

Im nächsten Teil möchte ich gerne über meine drei Tagesausflüge schreiben. Da werde ich mich näher mit faszinierenden Themen befassen wie beispielsweise völlig falschen Entfernungs- und Zeitangaben im Lonely-Planet-Reiseführer, einer helmlosen Motorradfahrt durch Sichuans Hinterland, der Tatsache, dass scheinbar alle Wege keineswegs nach Rom, sondern zum größten Buddha der Welt führen; außerdem mit chinesischen Bauernhöfen und jenem Teil von Tibet, der tatsächlich mitten in Sichuan liegt.

8 Kommentare:

rudolfottokar hat gesagt…

1. schön dassd wieder "da" bist
2. schön, dass es offensichtlich schön war
3. schöne büdln
4. "quaesses"

Anonym hat gesagt…

Das erste Bild strahlt was Besonderes aus. Ja, es ist nur ein Platz... aber irgendwie meint man, diese überrealistische Wahrnehmung darin zu spüren, die man manchmal hat, wenn man sich bewusst macht, dass man JETZT wirklich HIER ist. Seltsam. :)

Ui, die tibetischen Gschäftln wären sicher was für mich! Nächstes Mal machma online-shopping via Händi! *g*

rudolfottokar hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
rudolfottokar hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Anonym hat gesagt…

schön, dass´d noch lebst ;-))) les es dann mal wenn ich dazukomm... muss grad facebooken ;-))) *ingnestl*

ClemmieInChina hat gesagt…

Liebes Tosherl:
Echt? Hm *schaut.nochmal* ja, ich glaub, ich weiß, was du meinst. Wahrscheinlich, weil die Leute da drauf so lebendig herummarschieren. Und das Sauwetter hat auch was realistisches :D.
Und stimmt ... in den Gschäftln hätt ich sicher irgendwas Buntes für Dich bekommen, ich Depp :P. Andererseits ... die Tibeter haben so einen argen Akzent im Chinesischen - da hätt ich gar nicht gewusst, wie ich kommunizieren soll :|.

@Papa: Hab dank, hab dank :).

_mathilda_ hat gesagt…

Jö, China-News! "colousl", wie das Captcha zu sagen pflegt, was die geneigte Kommentatorin in ein freudiges "Kolossal!" übersetzt.

Abseits von gepflegtem Amüsement über deine wie immer Zwerchfell-erschütternden Formulierungen, sah ich mich aber auch mit eigener Blödheit konfrontiert. Da speise ich seit über 20 Jahren in Chinarestaurants und mir ist noch nie die phonetische Ähnlichkeit zwischen Sichuan und Szechuan aufgefallen. Ich geh mich eine Runde schämen, und zur Vertiefung des Gelernten werde ich morgen wohl was Scharfes ordern beim Chinesen ;)

ClemmieInChina hat gesagt…

Naja, wenn's aber doch so viele Umschriften für's Chinesische gibt, kann man sich schon mal in Verwirrung wiederfinden. Deshalb hab ich ja die anderen Varianten dazu geschrieben :).

Spanti!