Donnerstag, 25. Dezember 2008

Guangxi - I: Zwischenmenschliches

Die Wahnsinnigen haben mich in ein Fünfsterne-Hotel einquartiert! Aber für 29 Euro pro Nacht sag' ich da nicht nein und nutze stattdessen gleich die gratis Internet-Connection in meinem Zimmer.

Weihnachten in den Tropen
Ja, ich bin in der Provinz Guangxi, 2.100 Kilometer südwestlich von Shanghai. Die Hauptstadt Nanning hat ein völlig anderes Flair als die Städte in Ostchina - es erinnert mehr an Südostasien. Auch die Sprache hier könnte eigentlich fast Vietnamesisch sein, so viel wie ich vom hiesigen Dialekt verstehe.

Aber ich will noch gar nicht viel vom Sightseeing berichten, denn bereits auf dem Flug hierher begab sich Berichtenswertes.

Im Flugzeug von Shanghai nach Nanning war ich der einzige Westler. Das heißt, nein: Einen zweiten gab es noch. Er saß genau vor mir. Und er kam aus Klagenfurt. Manchmal bezweifle ich, dass es wirklich nur 9 Millionen Österreicher gibt. Im schönen Heimatland vielleicht - aber im Rest der Welt leben sicher nochmal 100 Millionen.

Egal, ansonsten war ich jedenfalls der einzige.

Koarl
Doch nun zum Bemerkenswerten. Es ist nämlich so, dass ich - egal, wohin ich fliege - immer den gleichen Sitznachbarn habe.

Er heißt Koarl. (Oder zumindest sollte er so heißen.)

Koarl ist etwa Mitte Fünfzig, hat 180 Kilo, die er großzügig über seinen eigenen Sitz und etwa die Hälfte des meinigen verteilt, fällt Sekunden nach dem Hinsetzen in einen komaähnlichen Schlaf, sucht dabei - enthusiastisch transpirierend und seitlich hinwegsinkend - starken Körperkontakt, während er mir direkt ins Ohr eine zauberhafte Symphonie schnarcht, und erwacht erst wieder nach der Landung, wenn ich - dank regelmäßigen Teekonsums und blockierten Toilettenweges - bereits dunkelgelbe Augen habe.

Doch diesmal war Koarl offenbar verhindert. Denn neben mir saß eine junge Frau, keineswegs übergewichtig und hellwach.

Wo ist Koarl?
Ich war zunächst ein wenig verstört, wollte mich schon bei ihr erkundigen, ob Koarl denn womöglich der hart erarbeitete Herzkasperl getroffen hätte und sie nun die Vertretung wäre, entschied mich dann aber doch lieber für mein übliches, offenes Auftreten während des Reisens: Ich zog ein mürrisches Gesicht, klebte meine Nase an das Fenster und war auch sonst kontaktfreudig wie zwei grantige Stachelschweine.

Das ging auch etwa zwei Stunden lang gut, doch dann sprach mich meine Sitznachbarin an. Natürlich auf Chinesisch, aber erstaunlicherweise entspann sich trotzdem ein ausgesprochen nettes Geplauder, in dem es um chinesische Hauptstädte, Taiwan, Astronomie, Studium und auch sonst noch allerhand ging.

Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie aus Nanning stammt, jetzt in Shanghai arbeitet und über Weihnachten nach Hause fliegt, um ihre Familie zu besuchen. Weiters sollte ich der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass sie bildhübsch war, ausgesprochen sympathisch, hilfsbereit, klug - und sogar hervorragend Englisch sprach, was in stockenden Konversationsmomenten sehr hilfreich war.

Nach der Landung warteten wir gemeinsam, bis mein Rucksack endlich auf dem Förderband erschien, und sie half mir noch bei diversen Formalitäten. Dann schritten wir durch den Ausgang des Flughafens, frühlingshafte Abendluft umfing mich, und es entstand ein kurzer Moment des Zögerns. Ich fragte sie, wie sie denn nun in die Stadt käme.

Wahre Meisterschaft zwischenmenschlichen Verhaltens
So.

Bis hierher hätten Viele wahrscheinlich noch ähnlich reagiert. Aber jetzt darf ich mit einer kleinen Überraschung aufwarten. Denn was erwiderte ich auf ihre Auskunft, sie würde mit dem Bus ins Stadtzentrum fahren, um dann von dort ein Taxi nach Hause zu nehmen?

Richtig.

Ich sagte: "Ich glaub', ich nehme lieber gleich ein Taxi."

Dann verabschiedete ich mich noch mit den Worten: "Vielleicht treffen wir uns ja einmal zufällig in der Stadt oder so", und wunderte mich über ihren etwas irritierten Blick.

Nach einer halbstündigen Taxifahrt kam ich in meinem Hotelzimmer an, beobachtete die explosionsartige Selbstentpackung meines Rucksacks und dachte ein wenig nach.

Dann fiel mir folgendes auf:

* Eine interessante Frau sitzt zufällig neben mir im Flugzeug.

* Sie sieht nicht wie Koarl aus und riecht auch anders.

* Sie spricht mich an.

* Eine angeregte und -nehme Unterhaltung findet statt.

* Sie kennt das Reiseziel, über das ich nichts weiß, in und auswendig.

* Sie arbeitet üblicherweise in Shanghai, wo ich auch lebe.

* Sie wartet nach dem Aussteigen auf mich und hilft mir mit meinem Gepäck.

* Ich frage sie nicht nach ihrem Namen.

* Ich erfrage keinerlei Möglichkeit, Kontakt mit ihr aufzunehmen, um sich vielleicht einmal auf einen Kaffee zu treffen.

* Ich nütze nicht die Gelegenheit, gemeinsam den Bus zu nehmen, um noch ein wenig zu plaudern, und

* ich lade sie auch nicht ein, das erste Stück des Weges gemeinsam im Taxi zurückzulegen.

Warum?

Gute Frage. Wüsste ich auch gerne.

Naja - in Wirklichkeit tue ich das ja alles absichtlich, damit ich hier was zu posten habe, was in das Konzept meines mühsam aufgebauten Images vom Typ "Würschtl" passt.

Also dann halt ein Weihnachtsgruß
Hier ist es - auch ohne sympathische, ortskundige Bekannte - jedenfalls wunderbar, und sowohl Weihnachtsabend als auch Christtag habe ich zuvor noch nie auf ähnliche Weise verbracht.

Der Beweis hier gleich in Bild und Ton:


5 Kommentare:

_mathilda_ hat gesagt…

*note to self: nix essen oder trinken, wenn ich Clemens Blog lese - akute Spudergefahr!* Sollte es mit der Lehrbuchautoren-xten-Karriere nix werden, probiers doch mit Kabarattist. In der alten Welt, weil die Amis dich vermutlich wegen Zwerchfellzerrung vor Gericht schleifen würde ;)

Immerhin hast du es wohlbehalten an dein Ziel geschafft, da irritiert so ein Fünf-Stern-Hotel statt einer Absteige doch kein bisschen, da überwiegt doch das Triumph-Gefühl *g* Und somit kommen wir in den Genuß erster Eindrücke. Very Christmas, übrigens, dein Reiseziel ;)

Die zwei grantigen Stachelschweine werden den sozialen Umgang schon auch noch lernen - sie müssen sich nur erst die Stacheln gegenseitig abschleifen. Aber dann wären sie wohl "desol(at)"

rudolfottokar hat gesagt…

erstens: busserl...
zweitens: so werd ich nie ein enkerl kriegen...
drittens: "latly" kein scherz - steht echt da...

ClemmieInChina hat gesagt…

@mathilda: man dankt für zuspruch und rat - kabarettisttechnisch hatte ich sogar schon mal überlegt. aber erstens bin ich immer nur dann lustig, wenn's grad nicht passt (auf begräbnissen bin ich eine kanone!) und zweitens kann ich mir nix auswendig merken. mist :P.

@rudolfottokar: das schöne an vätern ist, dass sie immer die richtigen worte finden, um einen aufzumuntern :P. enkerl werma schon irgendwo auftreiben. notfalls halt adoptieren oder so. muss ich aber schnell sein, bevor angelina jolie die gesamte weltbevölkerung in ihre familie integriert *harhar*.

_mathilda_ hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
_mathilda_ hat gesagt…

*grmlhmpf&%§$§* Das kommt von Touchpads. Letzter Kommentar entfernt, neuer Versuch...

"erstens bin ich immer nur dann lustig, wenn's grad nicht passt" >>> verzerrte Eigenwahrnehmung. Vielleicht bist du noch lustiger, wenns nicht passt, das kann ich nicht beurteilen. Aber mein Humorzentrum (vielleicht zu leicht zugänglich) findet dich auch passenderweise lustig.

"und zweitens kann ich mir nix auswendig merken" >>> Teleprompter? Stichwortkarten? Gedächtnistraining? An sowas lassen wir eine Karriere doch nicht scheitern!

rudolfottokar, irgendwie entsetzt mich das doch... Du würdest deinen Sohn in die Adoption treiben? *imaginier* Flughafen Schwechat, Semptember 09. Der Flieger aus Shanghai ist gelandet, rudolfottokar tritt in der Ankunftshalle aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Sein Sohn, der ein Jahr lang im fernen China weilte, kehrt endlich zurück. rudolfottokar weiß nicht, was ihn erwarten wird. Was ist wohl im vergangenen Jahr mit seinem Sohn passiert? Wird er ihn wiedererkennen? Werden alle Gepäckstücke in den Kofferraum passen? Fragen über Fragen. Dann, endlich, geht die Tür auf. Heraus stürmt ausgelassen kichernd eine ganze Gruppe asiatischer Kinder im Alter von 0-14. Alle tragen schwarz. Mit stoischem Lächeln tritt hinter ihnen Clemens in Kunstlicht der Ankunftshalle und winkt seinem Vater zu. Über den Lärm der Kinder hinweg ruft er ihm mit trichterförmig an den Mund gelegten Händen zu: "Da sind sie, deine Enkerl!". rudolfottokar, dessen Miene von Vorfreude zu Fassungslosigkeit gewechselt hat, wird von den Kindern umringt, weswegen er weich fällt, als ihm doppelt schwarz vor Augen wird. *aus dem Tagtraum aufschreck*
Clemens, halt dich ran, Angie kann nicht ganz China adoptieren, so ein Dutzend Kinder wird für dich schon auch noch abfallen ;)