Ich fuerchte, das wird schon wieder ein eher salbungsvolles Posting, aber der Aufenthalt hier hat etwas Aetherisches und auch durchaus Kathartisches. Also lebe ich das hier eben hemmungslos aus. Ist eh gut, wenn das hier wieder ein bisschen mehr Tagebuch-Charakter bekommt. Meine Handschrift kann ich sowieso nicht lesen.
Duerre Felder
Einen wiederum strahlend schoenen Tag beginne ich mit einem Spaziergang in Richtung der Bergkette im Norden der Stadt. Es ist erstaunlich, wie schnell man aus dem modernen Stadtzentrum draussen ist und sich in den Vororten befindet, mit ihren teils kaum mehr (oder noch kaum) vorhandenen Haeusern und unbefestigten Strassen. Ich bin auf dem Weg zum Bei Chan Si, zu einem taoistischen Tempel im Norden der Stadt, doch wie ueblich verirre ich mich zunaechst. Das ist fein, denn so lande ich nach einigen engen Gaesschen und einem riesigen Marktgelaende auf einem Feld am Stadtrand. Zwei Baeuerinnen graben dort mit Spaten und Spitzhacken den steinharten, staubtrockenen Boden um. Mir ist schleierhaft, wie auf einem solchen Boden jemals etwas wachsen soll. Die Aussicht auf die umgebenden Berge ist hier grossartig - die Einheimischen hingegen behandeln mich wie das wandelnde achte Weltwunder. Doch genau wenn einem das ununterbrochene Angestarrt-Werden unangenehm zu werden beginnt, wird man von einem Ohr zum anderen angestrahlt oder es wird gewunken und gerufen. Mir faellt auf, dass hier die Aufmerksamkeit keine lustige, laute, offene ist, wie in den suedlicheren Landesteilen, sondern eher eine freundlich-ruhige. Trotzdem gibt es kaum jemanden, von dem man nicht zumindest angelaechelt wird.
Tempel im Fels
Trotz allem finde ich schliesslich zum Tempel, der teils direkt in Vorspruenge oder Vertiefungen der senkrechten Bergwand hineingebaut ist. Teile des Tempels sind vollkommen verfallen und von Schutt und Schmutz bedeckt, andere werden gerade voellig neu aufgebaut. Das haelt aber niemanden davon ab, zu beten, sich zu verneigen oder Fruechte, Geistergeld und Zigaretten zu opfern. Als ich die fast senkrecht hinauffuehrenden Stufen der Felswand erklettere, bin ich gleichermassen froh, schwindelfrei zu sein, wie starke Sonnencreme und eine Sonnenbrille gekauft zu haben, denn die Sonne brennt mit unglaublicher Kraft auf den Berg.
Der Kontrast zwischen den modernen Hochhaeusern im "Tal", den schroffen, wilden Felsketten, den verfallenen Tempelgebaeuden und den knallbunten, renovierten, die mitten in die Felswand hineingepresst scheinen, ist absolut unwirklich. Ich haette nicht gedacht, dass Xining so eindrucks- und stimmungsvoll ist.
Die kleinen Gebetshoehlen jenes Teils des Tempels, der in die Felswand hineingebaut ist, werden von einem halsbrecherischen Gang verbunden, in dem eine Reihe bunter Gemaelde die Di Yu - das taoistische Aequivalent der Hoelle - illustrieren. Angesichts der erstaunlichen Kreativitaet der dargestellten Grausamkeiten verblassen selbst die schlimmsten Werke von Hieronymus Bosch zu Grottenbahn-Illustrationen.
Armut und Ego
Etwas flau im Magen von Folterbesichtigung und hunderte Meter senkrecht abstuerzenden, unbefestigten Felswaenden unter mir, erreiche ich den Tempelausgang. Hier kauert eine Reihe alter, zumeist verkrueppelter Bettler auf dem Boden und streckt mir Blechschalen, Plastikbecher oder fingerlose Haende entgegen.
Ich gebe jedem von ihnen Yuan im Wert von jeweils ein bis zwei Euro. Ihre Freude darueber ist unbeschreiblich: aufgerissene Augen, lautes Lachen, ein alter Mann strahlt mich mit zahnlosem Mund an, ein anderer ohne Beine streichelt meine Knie, ein juengerer Bursch, dessen nackte Fuesse in einem steilen Winkel von den Knoecheln abwaerts nach aussen gewachsen sind, nimmt mich bei der Hand, ein uraltes Bauernehepaar in Lumpen verneigt sich vor mir, und ich werde mit hunderten Dankesphrasen ueberschuettet.
Ich weiss gar nicht, was ich angesichts dessen fuehlen soll ... Freude, Mitleid, Scham, Stolz und Trauer - alles ist dabei. Es ist bedrueckend festzustellen, ein wie grosser Anteil an Egoismus dabei ist, wenn man hilft. Man fuehlt sich besser - selbst nach so minimalen Aktionen wie diesen. Man hat geholfen, ist ein guter Mensch, kann auf sich stolz sein. All das spielt da mit. Mit einer gewissen Beruhigung merke ich aber, dass zumindest auch ein Anteil ehrlicher Freude darueber dabei ist, geholfen zu haben, wirklich armen Menschen das Leben zumindest ein kleines bisschen erleichtert zu haben, ohne jede Spur von Selbstreferenz. Gleichzeitig ist es beschaemend, dass ich mich nicht traue (und auch zu bequem dafuer bin), wirklich zu helfen. Eventuell koennte man so Zufriedenheit erreichen - oder das ist nur Sozialromantik. Ich weiss es nicht. Den Bettlern sind solcherlei Hirnwixereien ziemlich wurscht, fuer sie sind die naechsten paar Tage Ueberleben gesichert. Und vielleicht kommt es ja auch nur darauf an.
Freitag, 10. April 2009
Go West - VIIa: Xining und der Sinn des Lebens
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3 Kommentare:
(das mit der sonnencreme hat dir muttern telepathisch übermittelt ;-))
sonst sag ich einmal einfach nix - ich find das passt zu dem beitrag.
Es gibt auch Menschen, die einfach vorbeigehen. Wie die sich wohl fühlen?
@rudolf: manchmal schaffe ich es auch, selbst mitzudenken ];)
@etosha: ganz gut vermutlich. ist schliesslich auch irgendwie konsequent ...
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